Schildkröte als Sinnbild für Slowtravelling

Was soll Slowtravelling sein?

Manche meiner Beiträge sind mit Begriff „Slowtravelling“ verschlagwortet.

Den Begriff habe ich irgendwann irgendwo aufgeschnappt, und fand ihn sofort einfach sympathisch. Ohne mir über den Begriff des „Slowtravellings“ viele Gedanken zu machen, fand ich intuitiv, dass er sehr gut zu meiner Reisephilosophie passt. Für mich ist es in erster Linie die Entschleunigung der Reisegeschwindigkeit die eine Reise zu einer intensiven und besonderen Erfahrung macht. Diese Anforderung führt bei meiner Auffassung des Slowtravelling automatisch dazu, dass man entweder zu Fuss oder maximal mit einem Fahrrad unterwegs sein muss.

Deswegen kann eine intensive neue Reiseerfahrung auch quasi vor der Haustür stattfinden. Es ist für mich so als ob man anstatt eines anonymen Waldes die unterschiedlichen, einzelnen Bäume wahrnimmt. Nicht die Quantität, sondern die Qualität und Intensität der Reiseerfahrungen treten in den Vordergrund.

Allerdings bin ich irgendwann neugierig geworden, welche Gedanken sich andere Menschen zum Thema Slowtravelling gemacht haben und was Slowtravelling für sie ausmacht. Bei meiner Recherche bin ich relativ schnell auf Dan Kieran gestoßen. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit dem Thema und hat so manches Buch darüber geschrieben. In seinem Buch „Slow Travel – Die Kunst des Reisens“ habe ich tatsächlich alle meine Aspekte, die das Slowtravelling betreffen, wieder gefunden, aber Dans Definitionen und Erklärungen warum Slowtravelling uns erlaubt unser Leben intensiver zu erfahren, sind viel tiefgehender.

Neurologie als Erklärung für den Reiz des Reisens

Spannend finde ich Dans neurologische Erklärungsansätze, warum wir Reisen so intensiv erleben und wie er damit auch den Unterschied zwischen Reisen zum Urlaubmachen zu erklären vermag.

Als Grundlage seiner für mich plausiblen Theorie, erklärt Dan zunächst den Unterschied zwischen bewussten und unterbewussten Verhalten gemäß neurologischer Erkenntnisse.

Die Neurologen sind nämlich entgegen der heutzutage allgemeinen Meinung überzeugt, dass unser Verhalten hauptsächlich durch unsere unterbewussten Entscheidungen und nicht durch unser Bewusstsein gesteuert wird. Neuste neurologische Erkenntnisse besagen, dass nur 2 bis 3% unserer Gehirnaktivität sich mit dem Bewusstsein beschäftigt!

Hierzu zitiert Dan eine schöne Analogie eines berühmten Neurololgen. Dieser vergleicht unser Bewusstsein mit einer Zeitung, die nur die wichtigsten Meldungen aus aller Welt enthält, damit wir uns ein vernünftiges, bewusstes Bild von der Welt machen können. Die Zeitung selbst wird aber von dem Unterbewusstsein erstellt. Wobei das Unterbewusstsein eine quasi unendliche Menge an Meldungen innehat, aber die meisten eben für sich behält.

Hinzu kommt, dass unser Unterbewusstsein die meisten Entscheidungen übernimmt, da diese automatisiert ablaufen. Unser Gehirn ruft aus dem Unterbewusstsein ständig gelernte Automatismen ab.

Angefangen bei alltäglichen, offensichtlich unbewussten Dingen wie dem Gehen, wo es entscheidet welchen Fuß wir als nächsten setzen müssen. Aber auch komplexere Sachverhalt, wie die Entscheidung wie wir unseren Urlaub verbringen, werden unbewusst entschieden.

Spannend wird es aber für unser Gehirn, wenn es einer komplett neuen Situation ausgesetzt wird für das es keinen Automatismus parat hat. In diesen neuen Situation kommt das Bewusstsein ins Spiel. Wie gesagt, ist das laut den Neurologen aber viel seltener der Fall als wir es in unserer von der Rationalität vorherrschenden Zeit vorstellen.

Das besondere an dem bewussten Verhalten ist, dass in diesen neuen Situation unserer Gehirn stark arbeiten muss. Diese bewusst, erarbeiteten Entscheidungen nehmen wir dadurch viel intensiver wahr. Sie hinterlassen aufgrund der Intensität dadurch auch tiefere Spuren in unseren Erinnerung.

Unterschied zwischen Reisen und Urlaub

Übertragen auf Reisen und Urlaubmachen bzw. den Unterschied zwischen den beiden, bedeutet das, dass beim Urlaubmachen wir unserem Unterbewusstsein und beim Reisen unserem Bewusstsein die Kontrolle überlassen.

Ein Pauschalurlaub ist eben von Routinen wie festen Essenzeiten, Animationsprogramm, geführten Ausflügen geprägt. Auf das alles können wir unbewusst abgespeicherte Automatismen anwenden. Letztendlich erhoffen wir uns dadurch Erholung.

Eine Reise auf eigene Faust stellt uns dagegen immer wieder vor neuen Herausforderungen denen wir uns bewusst stellen müssen. Das führt dazu, dass wir das Reisen als aufregend und spannend empfinden.

Wie Dan betont, ist das nicht wertend gemeint. Beide Formen oder auch Mischformen haben ihre Daseinberechtigung, aber die unterschiedliche Wirkung ist neurologisch gut erklärbar. Das finde sehr spannend, weil es mit meinen Erfahrungen übereinstimmt.

Reisen verändert unsere Zeitwahrnehmung

Schon als Kind stellte ich mir die Frage, warum der Hinweg an ein Urlaubsziel mir immer gefühlt deutlich länger vorkam als der Rückweg. Auch hier scheint der Unterschied zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein eine gute Erklärung zu liefern. Der Hinweg ist neu für uns und unser Gehirn muss jede Kreuzung, jede Besonderheit am Wegesrand, den Weg selbst bewusst wahrnehmen. Auf dem Rückweg schalten wir auf den unbewussten Automatikmodus, wir passieren ja dann bereits einen bekannten Weg. Die Zeit verfliegt quasi, was nur bedeutet, dass unser Gehirn keine neuen Reize verarbeiten und keine neuen Entscheidungen treffen muss.

Beim langsamen Reisen durch für uns neue Landschaften, Länder und Kulturen sind wir ständig neuen Perspektiven und Situationen ausgesetzt. Unser Bewusstsein wird durch das neue immer wieder herausgefordert. Wir erleben auf diese Weise wortwörtlich unvergessliche Momente von den unsere Erinnerungen später schwärmen.

Das besondere des Slowtravellings

Die meisten werden zustimmen, dass es beim Reisen darum geht etwas neues für sich zu entdecken. Nur leider ist das was viele beim Reisen tun, genau das Gegenteil. Geführt von einem Reiseführer suchen wir paradoxerweise nach Bestätigung des Bekannten. Wenn man den Besuch möglichst vieler in einem gekauften Reiseführer angepriesenen Attraktionen für eine gelungene Reise hält, wird man selten eine eigene Sicht auf das Besuchte entdecken können. Man legt quasi den gleichen Maßstab wie viele andere Reisende an.

Erst die Langsamkeit des Reisens erlaubt einem einen eigenen Maßstab zu finden. Erst der daraus entstehende Detaillierungsgrad auf das angeblich bereits Bekannte, erlaubt einem individuelle Entdeckungen zu machen.

Zusätzlich führt die für die heutige Zeit ungewohnte Langsamkeit der Fortbewegung dazu, dass der Mensch eine hierfür typische vergrößernde Raum- und verlangsamende Zeitwahrnehmung erfährt. Er erweitert seinen Horizont und sein bewusst wahrgenommenes Zeitkontinum.

Diese eigentlich grundlegenden Erfahrungen machen das Slowtravelling in der heutigen Zeit zu etwas besonders erlebenswertem. Denn eigentlich ist unterwegs sein für uns Menschen etwas ganz normales. Wir Menschen haben gerade mal vor 15.000 Jahren angefangen sesshaft zu leben. Aus Evolutionssicht quasi gestern. Vielleicht verspüren deswegen viele Menschen im ihren Inneren regelmäßig das Fernweh. Das Slowtravelling ist das perfekte Gegenmittel für dieses Weh.

Reisen findet im Kopf statt

Einen Tipp von Dan finde ich sehr anregend. Anstatt eines Reiseführers, der uns gewissermaßen bevormundet und der für uns bestimmt, was interessant und sehenswert ist, empfiehlt Dan sich einer der Reiseregionen bedienenden Literatur zu widmen. Ein Roman, eine Biografie versetzt einen in eine reisezielauthentische Stimmung und lässt einen mit dem Besuchten in eine emotionale Beziehung treten. Vielleicht ist das kontraproduktiv für das Finden eines komplett eigenen Reisemaßstabes, aber es hilft sicherlich einen Maßstab zu finden der detailliert genug ist, um sich intensiv anzufühlen.

Slow und alleine als Königsdisziplin

Wenn die Begegnung mit dem Neuen, die eigentliche Besonderheit des Reisens ist, dann ist es besonders aufregend, wenn man langsam und alleine reist.

Hier ist man logischerweise komplett auf sich allein gestellt, um mit dem Ungeplanten einer Reise zu Recht zu kommen. Man muss seine Verhaltensmuster hinterfragen, um mit den neuen Situationen und Erfahrungen umzugehen. Nicht nur, dass jede Entscheidung alleine getroffen werden muss, man ist auch alleine mit seinen Gedanken. Man wird gezwungen in sich tief hineinschauen und innere Monologe abzuhalten. Wahrscheinlich so tief und intensiv wie man es im Alltag nie die Zeit oder die Muße finden würde.

Das klingt für manchen unangenehm bis beängstigend, ist aber laut Dan insbesondere auf langen Reisen angenehm und meditativ. Es ist wahrscheinlich auch mit ein Grund, warum man behauptet, dass Reisen einem helfen „sich selbst neu zu entdecken“.

Slowtravelling und dann noch mit wenig Geld

Mit wenig Geld reisen. Was nach einem Problem klingt, ist laut Dan ein weiterer Schlüssel für ein intensives Reisen. Bei seiner Milchwagenreise ist Dan auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen gewesen, da der elektrisch angetriebene Milchwagen täglich aufgeladen werden musste.

Ein solcher Reisender muss offen sein und auf die Menschen zugehen. Dies führt unweigerlich dazu, dass man ins Gespräch mit den Einheimischen kommt. Auf diese Weise lernt man das Land und Menschen wirklich kennen. Diese Begegnungen sind es auch die einem helfen den eigenen Horizont zu erweitern.

Treffend fasst Dan auch zusammen, dass man mit genug Geld Reisen kann ohne einem einzigen Einheimischen auf Augenhöhe zu begegnen. Ausgenommen derer die einen im Hotel bedienen.

Die Hilfsbereitschaft und Offenheit der Menschen war aber genau das, was mich in England bei meiner ersten Radreise begeistert hat.

Arten des Slowtravellings

Für Dan Kieran ist Slowtravellung aber nicht nur zur Fuss, per Rad oder Pferd möglich. Er sieht das sogar als ein Handicap für die bewussten neuen Erfahrungen, die uns das Reisen ermöglicht. Die Begründung ist plausibel. Diese Fortbewegungsmöglichkeiten haben gemeinsam, dass man sich dabei physisch anstrengt und so sich zu sehr auf sich selbst fokussiert. Die bewusste Wahrnehmung des Neuen kann dadurch abgeschwächt sein. Deswegen ist für Dan auch das Reisen per Zug, Bus oder eben einem alten elektrischen Milchwagen (der ca. 20km/h schnell ist), ein intensives Slowtravelling, bei dem er ganz bewusst das Neue auf sich einwirken lassen kann.

Die Belohnung – eigene Horizonterweiterung

Zu guter Letzt ist Dan überzeugt, dass Slowtravelling die eigene Sicht auf die Welt verändert oder meiner Meinung treffender gesagt (spirituell) erweitert.

Es erweitert unser Denkvermögen, da wir Menschen nur das denken können, was wir mit Worten auch ausdrücken können. Reisen in fremde Kulturen lassen uns aber Erfahrungen erleben für die wir bis dahin keine Vorstellung hatten und ggf. auch keine Worte hatten, um sie auszudrücken.

Wir bekommen beim Slowtravellling nicht nur eine neue Erfahrung, ein neues Gefühl oder eine neue Vorstellung, sondern im Idealfall auch das passende,neue Worte von dem besuchten Kulturkreis geschenkt. Wir erweitern unseren Horizont und wachsen spirituell damit für immer um ein Stückchen.

Als Beispiel führt Dan das Wort invantarru an. Es ist ein Wort der Inuiten aus der Arktis. Für die Inuiten bedeutet das Wort invantarru sowohl Zukunft wie auch Vergangenheit. Für die Inuiten ist das Leben ein ewiger Kreislauf und für diese Vorstellung haben die Inuiten dieses schöne Wort für das wir kein Gegenpart haben. Man kann sich gut vorstellen, dass es eine bereichernde Erfahrung ist, Menschen persönlich kennenzulernen deren Weltvorstellung so stark von der eigenen abweicht, dass sich das in deren Wortschatz und damit auch deren Denkvermögen widerspiegelt.

Wenn das alles nicht Gründe sind, sich einfach mal sich auf eine lange, langsame Reise zu begeben 🙂

Vielen Dank an Dan für das sehr anregende Buch.

 

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